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Zur Hegel-Edition

Als nach Hegels Tod im November 1831 ein „Verein von Freunden des Verewigten“ zusammentrat, um das Œuvre des Meisters in einer als „vollständig“ bezeichneten Gestalt zu veröffentlichen, war ein editionspolitisches Novum geschaffen. Die vorherrschende Form der Überlieferung neuerer philosophischer Werke war damals die Einzelausgabe eines vom Verfasser veröffentlichten Werkes; eine (tendenzielle) Gesamtausgabe, wie sie für Leibnizens Philosophie ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod verwirklicht wurde, bildete bis zur Wende zum 19. Jahrhundert eine Ausnahme, vergleichbar nur den Renaissance-Ausgaben der griechischen und römischen Philosophen. Und während es auch vor dieser Jahrhundertwende üblich war, dass Dichter Gesamtausgaben ihrer Werke veranstalteten, begann für die neuere Philosophie die Zeit der Editionen erst nach dieser Wende – und nicht zufällig mit einer Ausgabe der zuvor verfehmten und deshalb nur schwer greifbaren Opera Baruch Spinozas durch den Theologen H. E. G. Paulus, an der übrigens auch ein junger Philosoph mitgearbeitet hat: Hegel. Ein Jahrzehnt später hat Friedrich Heinrich Jacobi seine letzten Lebensjahre genutzt, um seine literarischen und philosophischen Werke in einer Ausgabe zu vereinen – und es ist wohl kein Zufall, dass der zuerst erschienene Band ein literarisches Werk präsentiert.

Im Falle Hegels hingegen ist es ein „Verein von Freunden“, von Schülern und Kollegen „des Verewigten“, der sich dieser Aufgabe unterzieht – und dies nicht nur aus pietätvollem Angedenken, sondern um in diesen Jahren, in denen der Streit um Hegels Philosophie bereits heftig tobt, sein Werk in einer geschlossenen, autoritativen Gestalt vorzulegen und damit seinen Geltungsanspruch mit Nachdruck zu unterstreichen. Diese Motivation prägt das durch den „Freundesverein“ geschaffene Corpus Hegelianum: Es geht darum, das Werk in einer Form zu präsentieren, die seine Überlegenheit in den Auseinandersetzungen dieser Jahre kraftvoll unter Beweis stellt – und zwar nicht etwa mit Hilfe kleinlicher Glättungen oder Verfälschungen, sondern durch die Art der Präsentation des Hegelschen ‚Systems‘. Doch die so geschaffene wirkungsmächtige Gestalt ist durch einen (zu) hohen Preis erkauft worden. Im Interesse der gedanklichen Geschlossenheit sind weite Teile des Hegelschen Werks aus dieser „vollständigen Ausgabe“ ausgeschlossen worden: eine Flugschrift über die politischen Verhältnisse in Württemberg, Kommentare zu Kants Metaphysik der Sitten wie auch zu Stewarts Nationalökonomie – und diese Schriften sind nun verschollen. Ebenfalls ausgeschlossen wurden die Schrift über die Verfassung des deutschen Reiches und die frühen ‚religionsphilosophischen‘ Schriften, deren Fragmente erst Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlicht worden sind. Ausgeschlossen wurden aber auch die ‚Systementwürfe‘ aus Hegels Jenaer Privatdozentenzeit, in denen seine Philosophie allmählich zu ihrer späteren Gestalt heranreift. Und ausgeschlossen wurden zunächst auch die Texte, die Hegel während der acht Jahre seiner Tätigkeit am Nürnberger Gymnasium verfaßt hat – Texte, die für unsere Kenntnis der Genese sowohl seiner Wissenschaft der Logik als auch seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von entscheidender Bedeutung sind. Doch das Interesse der „Freunde des Verewigten“ galt nicht dem sich entwickelnden Hegel (zumal jede Entwicklung ja eine partielle Selbstkorrektur bedeutet); es galt dem geschlossenen ‚System‘, mit dem man die damaligen philosophischen Schlachten siegreich bestehen wollte.

Aus eben diesem Interesse haben Hegels Freunde und Schüler noch einen weiteren und durchaus ‚revolutionären‘ Schritt getan: Sie haben erstmals studentische Nachschriften von Vorlesungen in eine Werkausgabe aufgenommen, und sogar so umfassend, dass sich die Ausgabe zur Hälfte auf solche Nachschriften stützt. Dies ist ein konsequenter Schritt gewesen: Hegel hat von seinem ‚System‘ ja nur die Wissenschaft der Logik in ausgeführter Gestalt veröffentlicht. Deshalb muss, wer Interesse an Hegels ‚System‘ insgesamt hat, sich der Vorlesungen bedienen, auch wenn diese ihre Inhalte gerade nicht in der Form des Systems, sondern in eher lockerer Darstellung ausführen. Doch so richtig dieser Schritt des Freundesvereins gewesen ist, so verfehlt ist die Weise seiner Ausführung gewesen: Hegels Gedankenführung ist zertrümmert, und aus den Trümmern ein neuer, als Hegels „System der Philosophie“ ausgegebener Bau notdürftig zusammengefügt worden.

Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ist sukzessiv deutlich geworden, dass diese Edition einen amputierten und korrumpierten Hegel präsentiert: dass wichtige, politische und religionsphilosophische Texte insbesondere aus der frühen Phase des Werkes fehlen und die edierten Texte in vielfacher Hinsicht irreführend und unbrauchbar sind. Um eine neue Edition vorzubereiten, wurde die Zeitschrift „Hegel-Archiv“ gegründet, in der wichtige Dokumente zur Edition veröffentlicht werden sollten; wenig später begann Georg Lasson, eine „Kritische Hegel-Ausgabe“ zu veröffentlichen, die von ihm allein jedoch nicht realisiert werden konnte; auch von der in den 1930er Jahren von Johannes Hoffmeister begonnenen „Neuen Kritischen Hegel-Ausgabe“ erschienen nur wenige Bände. Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete Hoffmeister in Bonn eine kleine Forschungsstelle ein, die – sowohl in sachlicher als auch in personeller Hinsicht – den Nukleus des späteren Hegel-Archivs bildete.

Angesichts der philosophiegeschichtlichen Bedeutung und des nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit neu erwachten Interesses an Hegels Philosophie stand die Notwendigkeit der Begründung einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Edition außer Frage. 1957 gab die Deutsche Forschungsgemeinschaft den Auftrag, eine Hegel-Ausgabe vom Rang der Akademieausgabe Kants zu erarbeiten; im Jahr darauf institutionalisierte das Land Nordrhein-Westfalen die Bonner Arbeitsstelle als „Hegel-Archiv“. Wenige Jahre später wurde das Jahrbuch „Hegel-Studien“ mit der Reihe „Beihefte“ gegründet – mit dem doppelten Ziel, die Edition zu begleiten und ein Publikationsorgan für die neu entstehende Hegel-Forschung zu bilden. Damit waren die institutionellen und publizistischen Bedingungen für die Erarbeitung einer historisch-kritischen Ausgabe geschaffen. Zu den vordringlichen Arbeiten gehörten damals die Ermittlung und Sammlung sowie die Ordnung und häufig auch die Datierung sämtlicher Textzeugen, die z.T. über die ganze Welt verstreut lagen, parallel dazu mussten eine Gesamtkonzeption der Ausgabe und verbindliche Editionsprinzipien erarbeitet werden. Nach einem Jahrzehnt solcher Vorarbeiten erschien 1968 der Band 4, als erster Band der neuen historisch-kritischen Hegel-Gesamtausgabe.

Gefördert wurde die Edition zunächst von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1980 wurde sie – wie die anderen langfristig angelegten philosophischen Editionsprojekte – an eine Akademie der Wissenschaften abgegeben, und zwar an die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, die heutige Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste, von der sie bis Ende 2016 getragen wurde. Sie erschien, wie auch die vorangegangenen Editionen Lassons und Hoffmeisters, wiederum im Felix Meiner Verlag, jedoch nicht mehr in Leipzig, sondern in Hamburg. Dass von Anfang an allen Beteiligten bewusst war, dass dies ein akribisch zu erarbeitendes Langzeitprojekt werden würde, illustriert der Ausspruch des damaligen Verlagsleiters Richard Meiner: Er hoffe, sein Sohn Manfred werde den Abschluss der Ausgabe noch erleben.

In das Erscheinungsjahr des ersten Bandes fällt auch die entscheidende Zäsur in der Geschichte des Hegel-Archivs und der neuen Edition: der Umzug von Bonn nach Bochum. Durch die Integration des Hegel-Archivs als selbständige Einrichtung in die damalige Fakultät für Philosophie, Psychologie und Pädagogik der Ruhr-Universität wurde seine langfristige Institutionalisierung gesichert. Der neu gegründeten „Arbeiter-Universität“ im Ruhrgebiet wurde damit eine in der Tradition verwurzelte geisteswissenschaftliche Einrichtung eingegliedert, wie sie Ende der sechziger Jahre sonst nur altehrwürdige Universitäten in Nordrhein-Westfalen besaßen: das Kant-Archiv in Bonn, das Husserl-Archiv und das Thomas-Institut in Köln sowie die Leibniz-Forschungsstelle in Münster. Mit dem Umzug von Bonn nach Bochum wurde die Leitung von Friedhelm Nicolin auf Otto Pöggeler übertragen; sein Nachfolger als Direktor des Hegel-Archivs wurde 1998 Walter Jaeschke.

Der wissenschaftliche Fortschritt der „Gesammelten Werke“ gegenüber älteren Ausgaben liegt zum einen in der Vollständigkeit, in der Präsentation des „ganzen Hegels“, zum anderen in der größtmöglichen Sorgfalt der Erschließung der Quellen. Sie werden nicht, wie vielfach üblich, in unterschiedliche Reihen für Drucktexte und Manuskripte separiert, sondern in ihrer geschichtlichen Folge präsentiert, so dass die gedankliche Entwicklung Hegels sichtbar wird; die Nachschriften zu den ohnehin zeitlich am Ende des Hegelschen Werks stehenden Vorlesungen werden gleichsam in einer zweiten Abteilung (Bände 23–30, jeweils in mehreren Teilbänden) der Edition der Druckschriften und Manuskripte (Bände 1–22) nachgestellt. Die Texte werden erstmals wieder in ihrer ursprünglichen, nicht modernisierten Form ediert; die kritische Bearbeitung wird durch einen textkritischen und gegebenenfalls durch einen Variantenapparat dokumentiert. Alle Bände bzw. Bandgruppen werden durch einen umfangreichen Editorischen Bericht und vor allem durch einen Anmerkungsteil erschlossen, aus dem die nahezu unfaßbare Breite von Hegels universaler Quellenkenntnis wenigstens im Umriß deutlich wird.

Von den zahlreichen Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftlern, die sich zu Forschungszwecken am Hegel-Archiv aufgehalten haben, sind insbesondere in den letzten zwanzig Jahren Übersetzungen der erschienenen Bände der Hegel-Ausgabe angefertigt worden, und zwar nicht nur ins Englische, Französische, Spanische und Italienische, sondern auch ins Chinesische, Japanische, Koreanische, Portugiesische, Baskische, Schwedische, Russische und Ungarische usw.

Nach dem Auslaufen der Förderung der Hegel-Edition ist das Hegel-Archiv vollständig in das Forschungszentrum für Klassische Deutsche Philosophie integriert worden, das im Jahre 2011 an der Ruhr-Universität unter der Leitung von Birgit Sandkaulen gegründet worden ist. Hier werden auch die wenigen zum Abschluss der „Gesammelten Werke“ noch fehlenden Bände erarbeitet. Angesiedelt am Forschungszentrum sind neben der Hegel- auch die Jacobi-Edition, die Redaktion der Zeitschrift „Hegel-Studien“, das Forschungskolloquium zur Klassischen Deutschen Philosophie sowie die Forschungsbibliothek, die Studierenden, DoktorandInnen und Gästen des Forschungszentrums für Klassische Deutsche Philosophie / Hegel-Archiv zur Verfügung steht.

Walter Jaeschke